QUIET WORDS
Betrachtungen des ultimativ Weiblichen
Stochern bis der Zahnarzt kommt
Der Zahnstocher, die Stichwaffe für’s saubere Gebiss? Wir raten ab!
Diese Kolumne ist so kurz wie der Zahnstocher lang ist. Also nicht lang. Warum sich überhaupt Gedanken über den Zahnstocher machen? Dass heute noch jemand in seinen Zähnen herumstochert, um diese von Speiseresten zu befreien, ist selten geworden. Ich finde das erfreulich! Selbst dezent und hinter vorgehaltener Hand ist der Gebrauch dieses sechs bis sieben Zentimeter langen Hölzchens nicht wirklich elegant. Und auch Wikipedia empfiehlt „Heute wird vom Gebrauch von Zahnstochern bei Tisch mit Rücksicht auf das ästhetische Empfinden anderer abgeraten.“
Aber es gab schon Zeiten, da aß der Mensch rücksichtslos für solch „ästhetisches Empfinden“; er frass archaisch. In Gasthäusern, deren Tischplatten noch das Material Resopal kannten, gehörten (und gehören) Zahnstocher zu jenem lieblichen Ensemble, das man auch „Menage“ zu nennen pflegt: Pfeffer und Salzstreuer, eine kleine Maggiflasche und eben (in Papier oder Cellophan eingewickelte) Zahnstocher. Gasthäuser, die solch Menage auf den Tischen platziert hatten, waren (und sind) kulinarisch eher von bescheidener Art. Der feine Esser rümpft die Nasenflügel bei neandertalerischen Essgewohnheiten - und zu ihnen gehört der Zahnstocher. Ist er doch eines der ältesten Werkzeuge der Zahnreinigung überhaupt und somit ein Gegenstand, über den sich Archäologen, Anthropologen und Paläontologen Gedanken machen und wissenschaftliche Texte verfassen. Nur soviel zur Historie: Nachdem sich der Gebrauch von Fischgräten und Schnurrhaaren von Walrossen als Zahnstocher erledigt hatte, waren im 17. Jahrhundert die Zahnstocher der Upperclass aus Elfenbein und in Silber oder Gold gefasst. Das war zwar Luxus, aber mit heutiger Zahnpflege verglichen „sandlerlike“. Zur Zeit des Barock war bei Hofe eine elektrische Zahnbürste vom Typ Philips Sonicare ProtectiveClean 5100 mit „Überragender Performance, intelligentem Coaching und brillantem Design“ sowie selbstverständlichen „Premium-Bürstenköpfen“ unbekannt. Man interessierte sich mehr für den Klang eines Spinetts im Ohr als für die Reste eines Spinats im Mund.
Zurück zu unseren Zahnstochern, dieser Stichwaffe des kleinen Mannes (und auch der kleinen Frau). Manche Zeitgenossen lieben ihn noch immer und kauen auch lange nach Tisch nervös auf dem Hölzchen herum, bis es an seinen Enden feucht zerfasert. Das kann als Phänomen unterdrückter Hyperaktion gedeutet werden; am Ende solchen Gebrauchs finden sich Zahnstocher dann manchmal sogar in den Ritzen von Sofapolstern wieder – das ist ähnlich ekelhaft wie Kaugummis unter den Armlehnen im Kino. Irgendwo muss das Zeug nach Stress- und Nervositätsabbau ja hin. Benutzte eine Frau den Zahnstocher, kann man das noch an Lippenstiftresten erkennen; also schön ist dies alles nicht. Und dass man im Jahr 2007 noch bei Random House in New York die grundlegende sowie bahnbrechende Geschichte des Zahnstochers veröffentlichte „The Toothpick. Technology and Culture“ erstaunt. Die Dinger sind auf dem Rückzug, zumal sie auch als beliebtes Bastelwerkzeug immer seltener Verwendung finden: Der Party-Igel der 1950er-Jahre mit seinen lieblichen Gouda-Käsewürfelchen auf den Zahnstocherlanzen, er ist ausgestorben; die Olive im Martini hat deutlich mehr Lifestyle, wenn sie von einem schicken Cocktail-Pick aufgespießt ist und das gilt auch für Appetithäppchen, für Fingerfood und sonstige Liebesgrüße aus der Küche.
180 Stück Zahnstocher der Marke Profissimo beim Drogeriehändler dm sind inzwischen aus „elastischem Bambus“. Häufig wird auch leicht aufzuforstendes Birkenholz benutzt. Wir wollen schließlich politisch korrekt stochern. Denn was nutzt es, wenn unser Gebiss sauber ist, aber die Welt untergeht? Es gibt Menschen, die stochern und sticheln, bis das Zahnfleisch blutet; sie entfernen nicht nur Speisereste aus Zahnzwischenräumen, sondern lockern Zahnplomben, Füllungen und eigentlich fest verankerte Implantate. Zahnärzte sind nicht begeistert von dieser brutalen Stocherei. Zahnseide, Mundduschen und Zahnpflegekaugummis sind deutlich bessere (und kuliviertere) Pflegeutensilien für moderne Zahnhygiene. Manche Menschen haben es mit Zahnstochern auch schon zu Augenverletzungen gebracht, oder, was häufiger vorkommt, die Dinger ganz einfach verschluckt. Gefahren lauern eben überall.
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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