QUIET WORDS

Betrachtungen des ultimativ Weiblichen

Der Rumläufer

Flanieren ist eine Kunst, die leider in Vergessenheit gerät.

Wir leben in einer großen Zeit. Einer Zeit, in der Menschen ungeahnte, große Taten vollbringen. Erinnern Sie sich noch an einen gewissen Herrn namens Felix Baumgartner? Einer der ganz, ganz Großen! Er sprang zur Freude der Menschheit und des Herrn Mateschitz aus dem Weltall zu uns Erdenbürger herunter. Vielleicht haben auch Sie den Mann schon längst vergessen. War ja im Jahr 2012 und ist also schon eine Ewigkeit her.

Der Flaneur

Aber andere große Taten und Ereignisse folgten : Von schier unendlicher Bedeutung ist das, was Josef Köberl am 10. August vollbrachte: Zwei Stunden, acht Minuten und 47 Sekunden stand der Mann in einer Kabine (und nur mit einer Badehose bekleidet) bis zum Hals in Eiswürfeln. Diese fantastische, diese unglaubliche Großtat eines Großen fand auf dem Vorplatz des Wiener Hauptbahnhofs statt. Köberl, Josef Köberl (merken Sie sich bitte diesen Namen, sonst wird Ihnen etwas im Leben fehlen) stellte einen neuen Weltrekord auf. Der bisherige lag bei einer Stunde, 53 Minuten und zehn Sekunden. Lächerlich! Solang wie Josef Köberl hat es, bis zu den Wangenknochen im Eis, noch kein Mensch auf der Erde vor ihm ausgehalten. Großartig! Gratulation an Iceman Köberl, Josef – auch von Beauty.at und seinem, ob dieser Leistung zutiefst beeindruckten Kolumnisten.

Obwohl, ich muß gestehen : Geistig eisige Tiefen würden für mich nur Sinn machen, stünde ein Mensch auf dem Reumannplatz zu Wien vor dem Eissalon Tichy und wäre dort in eine Box bis zum Hals in Eismarillenknödel gepackt. Dann wüsste ich zumindest, was ich zwei Stunden, acht Minuten und 47 Sekunden lang tun könnte. Aber mit dem Tun, also mit dem Handeln ist es bei mir so eine Sache. Wir nähern uns dem Thema dieser Kolumne. Das Handeln wird überschätzt. Ich finde, das Schauen ist wichtig. Das Schauen beim Gehen.

Wissen Sie, was ein Peripatetiker ist? Sie müssen diesmal nicht googeln, denn ich erkläre es Ihnen: Ein Peripatetiker läuft einfach gerne herum. Er wandelt, er flaniert gerne. Peripatos heißt auf altgriechisch Wandelhalle und der griechische Philosoph Aristoteles bemerkte, dass es dem Denken gut tut, wenn man dabei herumläuft, also in der Wandelhalle, dem Peripatos flaniert. Seine Schüler taten es ihm gleich, sie dachten und philosophierten beim Gehen und Lustwandeln und nannten sich deshalb Peripatetiker.

Ich habe keine Wandelhalle. Ich habe die Kärntner Strasse. Mehr noch, ich habe zum Wandeln (vulgo Rumlaufen) den ganzen 1. Bezirk der schönen Stadt Wien, vielleicht sogar das ganze Wien selbst. Ich bin ein Flaneur. Ein Flaneur läuft und sieht und denkt. Und wenn er nicht denkt, so ist gerade dieser kontemplative Zustand träumerischen Dämmerns ein hochgeistiger und extrem kreativer. 

Der Flaneur wurde im 19. Jahrhundert erfunden. Die Städte wurden größer, die Straßen breiter und das wollte belebt werden. Man flanierte auf den Boulevards, den Promenaden und in den Passagen (denn manche Straßen wurden überdacht, damit man auch bei Regen Flanieren konnte). Ein Flaneur hat kein Ziel. Er lässt sich treiben. Ich kann das gut verstehen. Wenn ich nur eine Tube Zahnpasta kaufen muss, so ist der Weg zum Drogeriemarkt nie ein Flanieren, sondern eben „zielgerichtet“ – und ein Ziel will man ja schnell erreichen. Flanieren ist eine Kunst. Das einzige was man dafür braucht, ist eine große Stadt und Zeit. Der Flaneur hat Zeit im Übermass, Tempo und Eile sind ihm verhasst. 1839 war es in Paris elegant, beim Flanieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Promenierens in den Passagen und auf den Boulevards.

Natürlich bedauere ich, dass ich keine Schildkröte am Kohlmarkt oder auf der Mariahilfer Straße Gassi führe. Ich kann ja mit unserer Redaktionskatze Blunzi üben. Sie ist nicht schnell, jedoch noch immer zu schnell zum Flanieren. Vielmehr als ohne Schildkröte zu sein, bedauere ich aber, dass es zwar den Flaneur gibt, jedoch nicht analog sein Pendant: die Flaneuse. Dies beweist doch wieder alle Ergebnisse der Verhaltensforschung: Der Mann ist visuell veranlagt, die Frau nicht. Der Mann sieht; die Frau wird gesehen. (Ich mache jetzt nicht das Fass auf und stelle die Frage, ob darin der Grund liegt, dass Pornofilme hauptsächlich von Männern konsumiert werden?) Männer sind Augenmenschen; wahrscheinlich ist und bleibt der Flaneur deshalb männlich.

Ich wage die Behauptung: Josef Köberl ist kein Flaneur . Er sucht den fixierten, statischen Ort vor dem Wiener Hauptbahnhof. Er lässt sich in Eis einbetonieren und kann seine Plexiglasbox nicht verlassen, um zum Beispiel eine schöne Frau anzusprechen. Ihm blieb zwei Stunden, acht Minuten und 47 Sekunden immer nur der gleiche (Aus)blick. Ich könnte ihm sagen, dass es am Wiener Hauptbahnhof soviel zu sehen gibt. Man muss dafür aber ortsungebunden sein, muss rumlaufen können. Wie ein Flaneur eben.

#pascalmorche

Pascal Morché

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims. 
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