QUIET WORDS
Betrachtungen des ultimativ Weiblichen
Tattoos: Der gezeichnete Mensch
Der Sommer bringt es wieder an den Tag: Quer durch alle Milieus lassen sich die Menschen tätowieren. Warum tun sie das?
Es gab Zeiten, da wurde ein Mensch vom Leben gezeichnet. Es fräste sich in seine Haut, hinterließ dort Spuren und schuf einen individuellen, persönlichen Canyon des eigenen Ichs. Die Haut, die Oberfläche des Menschen war unverwechselbarer Beweis dafür, dass er sein Leben „auf sich genommen“ hatte, und die Spuren akzeptierte, die diese Last auf seinem Körper hinterließ. Der Mensch sah bestenfalls aus wie Mick Jagger – oder wie ein Bauer, von August Sander porträtiert. Vom Leben gezeichnete Menschen, so ganz ohne Tattoo-Zeichnung.
Doch längst vermeiden wir möglichst alles Lästige des Lebens; es birgt Leiden und Trauer, Mühen und Qualen. Das sind alles keine schönen Worte in einer Welt aus Optimismus und positivem Denken, aus Glücksgier und Perfektionsanspruch. Wo Altern als Makel gilt, soll das gelebte Leben nicht mehr den eigenen Körper zeichnen. Mit Wellness, Fitness, Lotionen, mit Skalpell und Botoxspritzen gehen wir gegen die Spuren des Lebens vor. Wer dabei hinreichend erfolgreich ist, entledigt sich auch mehr oder weniger erfolgreich seiner Körperbehaarung.
So wurden wir bis auf die Haut glatt und gleich. Die Leinwand war freigeräumt, allein es fehlte das Gemälde. Als wir das bemerkten, fragten wir uns: Und was unterscheidet mich nun vom anderen? Wie kann ich einen „meinen“ persönlichen Unterschied sichtbar machen? Wie in kurzlebigen Zeiten, möglichst dauerhaft ein sichtbares Ich schaffen?
Die Antwort suchen viele im Tattoo-Studio, schließlich ist man doch für den Rest des Lebens Herr seiner Hülle. Gebt mir Eigenes, macht mich unverwechselbar, gönnt mir Spuren, zeichnet mich für mein Leben! Und schon surrt die Tätowiernadel und stichelt die Selbststigmatisierung ins Fleisch. Freilich: etwas Exklusives zu schaffen, kann niemals gelingen, wenn all zu viele es auf die selbe Weise tun. Um darüber nachzudenken, bedürfte es weniger an Zeit, als die Tinte braucht, um zu trocknen. Doch eine tätowierte Infantilgesellschaft fabuliert von Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung, von innovativer Individualität, visueller Provokation und ganz chic auch von Body-Modification..
Wen aber reizt noch ein Tribal am Steiß der Frau, wenn alle ein Arschgeweih tragen? Wen interessiert noch eine Botschaft auf dem Unterarm, die „Tiere essen“ heißt, wenn der nächste Unterarm schon die nächste Botschaft bereithält? Wen interessiert der Delphin auf dem Schulterblatt, wenn ein Schwertfisch des Nächsten Schienbein ziert? Niemand ist spießiger als der Konformist des Andersseins; diese banale Wahrheit wurde mit der eingefärbten Body-Modification leider vollkommen vergessen.
Tätowierungen stehen längst nicht mehr für die Wahrhaftigkeit von Hafenstädten, Puffs und Gefängnissen. In Hollywood werden die gleichen Motive aus den gleichen Motiven gestochen wie in Attnang-Puchheim oder in Duisburg-Ruhrort. Inzwischen sind tatsächlich alle Milieus tätowiert. Der Star und die ehemalige deutsche First Lady Bettina Wulff tragen ihre Tribals und die Kassiererin im Supermarkt und der Müllkutscher tragen es auch. Der Spitzensportler hat sein Tattoo und der verfettete Angestellte ebenso. Der Opernsänger (Jewgeni Nikitin) oder die Opernsängerin (Irène Theorin, Bayreuths Walküre mit Riesenrose auf dem Busen) lässt sich wie der Popstar tätowieren. Sogar die Orientalinnen, hört man von Augenzeuginnen, sehen unter Tschador und Burka oft konform westlich aus. Und auch People of Color wollen noch mehr Color und bevorzugen helle Tinte. Ob Star oder Niemand, für alle Tätowierten gilt die Faustregel: je geringer die Bildung desto größer das Bild.
Es erstaunt, dass die Beauty-Industrie das Thema eher zögerlich behandelt, wird hier doch nach Pflege gierende Haut massenweise zum Kosmetik-Markt getragen. So gibt es zwar Sonnengels speziell für großflächige Tätowierungen und Cremes für Tattoopflege, meist wird aber stark deckendes Makeup angeboten. Und schon nehmen auch die Studios zu, in denen Tattoos doch bitte weggelasert werden mögen. Allein es bleiben Narben.
Auf welker Haut im Altersheim wird in den nächsten Jahrzehnten den Pflegern beim Windelwechseln sichtbar werden, wer sein Leben lang Individualist blieb , oder wer schon immer ganz anders sein wollte als die anderen. Wahrscheinlich denken aber die tätowierten Pfleger dann ebenso wenig eine Sekunde lang darüber nach, wie es etwas später die tätowierten Leichenbeschauer tun werden.
#pascalmorche
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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