QUIET WORDS
Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché
Lila - Letzter Versuch
Alles „Very Peri“ im neuen Jahr? Leserinnen dieses Magazins wissen: 2022 hat seine Modefarbe – wer sie nicht mag, kann trotzdem glücklich werden. Unser Kolumnist hat zu diesen Farbspielen seine ganz eigene Meinung
2022, ein neues Jahr! Schauen uns die kleinen Marzipanschweine von der Silvesterparty gelangweilt an? Oder schauen wir inzwischen nur gelangweilt zurück? Kennt jemand jemanden, der jemals jemanden kannte, der wirklich diese kleinen Marzipanschweine verzehrt hat? Ihr Kolumnist kennt niemanden. Auch bei ihm wandern diese rosa, gerne mit Kleeblatt, Zylinder, 1-Cent-Münze oder Marienkäfer verzierten Glückbringviecher ins Küchenregal. Ganz oben. Da überleben sie für eine Zeit. Sie wegzuschmeißen fällt einem eben im Juni leichter als im Januar. Da gibt es noch Welpenschutz für Marzipanschweine und für das neue Jahr.
Ansonsten bleibt vieles wie 2021: Die FFP2-Masken hängen weiterhin an der Schnalle der Wohnungstür. Ihren Gebrauch haben wir schon so verinnerlicht, dass FFP2-Masken mit Schlüssel, Portmonnaie und Handy zu den „ich-verlasse-meine-Wohnung“–Accessoires gehören. Auch ist das Ertasten ihrer Gummibänder in der Hosentasche inzwischen ein selbstverständlich gewordenes Gefühl. Wichtigtuer würden vor das Wort Gefühl noch „haptisch“ schreiben. Aber Ihr Kolumnist macht das natürlich nicht...
2022 wird ein lilablassblaues Jahr. So was wird festgelegt, fast diktatorisch bestimmt. Nicht vom dicken Dicktator Kim Jong-un (er hat übrigens abgenommen, ist nur noch Diktator), sondern vom Pantone Color Institute. Das Unternehmen aus Carlstadt im US-Bundesstaat New Jersey ruft jedes Jahr eine Trendfarbe aus. 2022 ist „Pantone 17-3938 „Very Peri“. Für den nicht farbenblinden Normalmenschen ist Very Peri eine Art Lilablassblauviolett. Die Chefin des Instituts, Leatrice Eiseman drückt das natürlich poetischer aus: „ein dynamisches Blau, das mit einer belebenden rötlich-violetten Nuance an die Blüten des Immergrüns erinnert.“ Puh, „lila wie die Kuh“ darf Frau Eiseman nicht sagen, denn die Milka-Kuh hat selbstverständlich ihr eigenes, geschütztes, corporatemäßiges Pantone-Lila. Nein, „Very Peri“, der Pantone-Ton 2022 ist natürlich im ausgeklügelten Farbcodierungssystem des Unternehmens etwas absolut Einzigartiges und nicht nur eine profane Mischung von blau mit rot. Und natürlich wird „Very Peri“ auch ein eigener Symbolcharakter angedichtet: Blau stehe für Beständigkeit und Ruhe, dynamisches Rot suggeriere Optimismus. Na dann! Mögen die Designer weltweit jetzt alles in violett-lila entwerfen, auf dass wir von H&M bis Hermès nur noch lila T-Shirts sehen – und kaufen.
An jedem Hokuspokus ist ja ’was Wahres dran und alles hängt immer mit einander zusammen. Frauenliebe, auf der griechischen Insel Lesbos von der antiken Lyrikerin Sappho in violetten Farben bedichtet, zog der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren die „lila Latzhose“ an. Dazwischen gab es noch ein paar tausend Jahre lila Religionsgeschichte. Ob Christentum, Judentum oder Buddhismus... Mystik symbolisierendes Lila hat in allen Religionen Saison – und wird als Farbe der Trauer auch gerne für die Werbung von Bestattungsunternehmen und für Kranzschleifen genommen. Aber wir wollen nicht unterschlagen, dass Lila auch für Luxus steht; in der Kombination mit Gold kann dem niemand widerstehen.
„Very Peri“, ist natürlich auch kein schnödes Magenta. Das wird gerne im sanitären Bereich für Gehhilfen wie Rollatoren und Krücken benutzt. „Very Peri“ erinnert vielmehr an blühende Lavendelfelder. Vom Lavendel könnte auch der stets despektierlich gebrauchte Begriff „Lila, letzter Versuch“ stammen. Das ist zumindest eine verwegene, sexistische Interpretation: Als ältere Damen noch ältere Damen waren und keine sexy Milfs, trugen sie bevorzugt Parfüms, die deutlich nach Lavendel dufteten...
Oder war es doch blühender Flieder?
Zu ihm bemerkte der wunderbare, österreichische (!) Schriftsteller Alfred Polgar: „Flieder riecht lila, auch wenn er weiß blüht.“ Genau das beweist, man muss sich die Kraft und die Wirkung einer Farbe nur einbilden. Das tun viele. Das Pantone Color Institute lebt davon nicht schlecht.
#pascalmorche
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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