QUIET WORDS
Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché
Klassentreffen!
Klassentreffen sind klasse Treffen – wenn die Lebensbilanz stimmt
Eigentlich dürfte ich diese Kolumne nicht schreiben. Aber meine Chefin von beauty.at hat mich so lieb gebeten, da konnte ich nicht nein sagen. Also, es geht um Klassentreffen! Warum ich mich für nicht befähigt halte, darüber zu schreiben, hat seinen Grund: Ich, Ihr Kolumnist, bin in der Schulzeit so oft sitzengeblieben, bin mit den Eltern so oft umgezogen und habe so oft Schulen gewechselt und Klassen freiwillig wiederholt, bis man mich schließlich vor der Matura vom Gymnasium warf. Ich war also in soviel verschiedenen Klassen, dass ich mich einer einzigen Klassengemeinschaft, wie sie in vielen Jahren wächst, nie zugehörig fühlte. Meine ahasverische Heimatlosigkeit begann schon damals. So kann ich über den Zauber, der über einem Klassentreffen liegt, eigentlich so viel oder so wenig schreiben, wie über Jeremy Fragrance oder über die Relativitätstheorie. Ich verstehe davon nichts! Dennoch will ich es versuchen, denn vieles wurde mir über Klassentreffen erzählt und noch viel mehr kann ich mir zu diesem Thema vorstellen.
Klassentreffen sind klasse Treffen, wenn die Lebensbilanz stimmt. Klassentreffen befriedigen nämlich des Menschen einfachste Triebe: Selbstdarstellung und Voyeurismus. Der Mensch ist ein sich vergleichendes, ein comparatives Wesen. Und so schweben über einem Klassentreffen einzig und allein zwei Fragen: Was wurde aus denen? Was wurde aus mir? Fragen auf Basis einer gemeinsamen Schulzeit. Ich halte eine „gemeinsame Schulzeit“ übrigens für eine ziemlich belanglose Basis, solche Fragen zu stellen. Aber, nun denn.
Initiatoren eines Klassentreffens haben es meist sozial und somit statusmässig im Leben zu etwas gebracht. Klar, niemand will anderen vorführen, dass man es in den vergangenen dreißig oder vierzig Jahren gerade mal in eine abgeranzte zwei Zimmer Mietwohnung geschafft hat, dass man als Alkoholiker in sozial prekären Verhältnissen lebt, dass man vielleicht auch mal im Häfn war und überhaupt: dass man das ist, was heute ein „loser“ genannt wird. Nein, Initiatoren eines Klassentreffens schlagen als Ort ein (für alle bezahlbares) Gasthaus vor, oder natürlich die eigene Wohnstätte. Diese aber nur, wenn sie prosperierende Lebensumstände allein schon dadurch widerspiegelt, dass man locker dreißig Menschen einladen kann, ohne dass Sauerstoffmangel zur Schnappatmung führt, oder sich längere Schlangen vor dem Klo bilden. Davon hat man schließlich, was man im Gemeindebau nicht hätte: mehrere. Aber im Gemeindebau spricht auch selten jemand vom powder room. Wunderbar für ein Klassentreffen eignet sich natürlich auch das eigene Haus, das man seinen ehemaligen Mitschülern „vorführen“ kann – eine Garten- und Grillparty mit einem Klassentreffen zu kombinieren, ist einfach ideal. Egal wo es stattfindet: ein Klassentreffen ist ein Vorführen des eigenen Glücks – möglichst auch in einer glücklichen Partnerschaft. Dies alles wird zwar schon ununterbrochen bei facebook und instagram gepostet, so aber kann man es den anderen auch mal ganz analog beweisen.
Schon die Zusagen der Gäste, dieser ehemaligen Klassenkameraden und -Kameradinnen sind interessant: ein paar werden nicht kommen können, denn sie sind schon tot. „Die“ hat man schon mal überlebt. Eine Feststellung, die bei manchen eine Mischung aus Triumph und Schaudern auslöst: Ui, Ui, man war ja schließlich derselbe Jahrgang. Aber es kommen natürlich noch einige; ja, es kommen sogar viele, denn die meisten aus der ehemaligen Schulklasse haben die letzten Jahrzehnte überlebt. Fragt sich nur „wie“. Manche gehen schon am Stock und andere keuchen, weil sie kaum mehr den steilen Weg in den dritten Stock schaffen. Bei jedem Neuankömmling des Klassentreffens läuft das vergleichende System im Lebenswettbewerb sofort auf Hochtouren. Es ist ja auch wirklich schön, wenn man feststellen kann: ich bin doch noch verdammt fit und körperlich sehr gut drauf. Während ich Heliskiing mache, Motorrad fahre und vor Sardinien tauche, kommen andere kaum die Treppe rauf.
Im Verlauf des Abends werden sie weniger, die Häppchen, die man finger food nennt. Über abgefutterten Platten und geleerten Schüsseln, über allem und allen schwebt immer wieder dieser eine Satz: „Ich erinnere mich genau.“ Nichtigkeiten von damals werden ausgetauscht, belanglose Streiche aus vergangener Zeit ans Licht gezogen. Wer nicht „ich erinnere mich genau“ sagt, der beginnt seine Sätze mit „weißt du noch?“. Wirklich interessant am Klassentreffen aber ist nur, was aus wem wurde: Da ist derjenige, der schon als Bub die größte Goschn hatte und immer alles besser wusste – der hat inzwischen eine PR-Agentur, die super läuft; da ist das ehemals scheue Mädchen, das kein Blut sehen konnte und in Biologie beim Sexualunterricht stets verklemmt kicherte – und die Gynäkologin wurde; da ist der ehemals schüchterne, blasse Mitschüler, dessen Gerechtigkeitssinn so stark ausgeprägt war, dass er niemanden abschreiben ließ – und der heute ein, zur Fettleibigkeit neigender Staatsanwalt ist. Ja, da ist auch die dicke Mitschülerin, die nicht vergessen hat, dass man sie immer „Fleischlaberl“ nannte – und die sich nach ihrer Schulzeit zu einer Schönheit entwickelte. Jetzt nippt sie am Aperol Spritz, zieht ihren zu kurzen Rock immer runter und erzählt lachend, dass sie bei der Wahl zur Miss Austria immerhin einmal Zweitplatzierte wurde; hinter einer noch schöneren Vorarlbergerin. So geht der Abend dahin und es ist irgendwie schön, dass jener damals Unangepasste, den sie alle „Crazy“ riefen, immer noch unangepasst ist und jetzt ein Tattoo- und Piercingstudio in einem kleinen Kaff bei Pöchlarn betreibt. „Du hast Dich ja gar nicht verändert,“ das hört man oft. Erschreckend oft. Vielleicht zu oft?
Man erinnert sich auch der Lehrer, die natürlich zumeist schon tot sind. Sie waren doch prägend mit ihren Schrullen, ihren Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten. Wie jener mit Holzbein, der immer einen Jungen, den die ganze Klasse „Schleimer“ nannte, bevorzugte. Aber: Schleimer ist schon viele Jahre tot. Schulden waren zu hoch, die Frau sehr bald weg, Schleimers Ende: Suizid im Keller. So erzählt man sich Gschichtln, während die Flaschen sich leeren. Alle finden die Idee mit dem Klassentreffen ganz einfach wunderbar; soweit man eben nicht zu den losern gehört. Aber die sind ja auch gar nicht der Einladung gefolgt. Man trennt sich und ist hoffentlich davon überzeugt, dass die eigene Lebensleistung sich doch im wahrsten Sinne des Wortes hat „sehen lassen können“. Und irgendeiner schlägt auch gewiss schon das nächste Klassentreffen vor. „Dann bei uns im Garten.... Also, bleibt alle g’sund, unser Garten ist groß.“ Crazy und Fleischlaberl werden dann auch wieder dabei sein. Im nächsten Jahr.
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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