QUIET WORDS
Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché
Wer ist Melanie?
Ein Wohnungswechsel lehrt tatsächlich: „Dreimal umgezogen ist einmal abgebrannt.“
Eigentlich ist dieser Text die logische Fortsetzung jener Kolumne Traumwohnung , in der das Maklerhandwerk und somit das Suchen eines Heimes als Heimsuchung umfassend behandelt wurde. Unbedingt nochmal lesen! (Soviel Eitelkeit des Autors muss erlaubt sein). Nun aber: Beauty.at hat eine neue Adresse. Das bedeutet also: Meine Chefin ist umgezogen beziehungsweise „übersiedelt“. Ich habe geholfen und dabei als "Deitscha" zuerst gelernt: Es heißt nicht „Umzug“ in Wien, sondern „Übersiedlung“. Ich kann verstehen, dass sich bei uns in Deutschland nach 1945 das Wort nicht etablieren konnte, da es leicht an Umsiedlung erinnert; und die hat mit Freiwilligkeit meist nichts zu tun.
Freiwillig also ging es in eine andere Wohnung, 700 Meter weiter. Wobei es bei einer Übersiedlung, bzw. einem Umzug auch völlig egal ist, ob Kartons und Möbel 700 Meter oder 700 Kilometer transportiert werden. Anfang und Ende der Reise sind entscheidend. Und Möbel, die auf der Straße stehen, haben etwas Verstörendes: sie erinnern irgendwie an alte Leute, die störrisch nicht von der Fahrbahn weichen wollen. Was gibt es denn auch existenziell Trostloseres und Erbarmungswürdigeres als ein Sofa oder einen Schreibtisch, der „vor“ einem Haus auf dem Gehweg steht und darauf wartet, verladen zu werden? Das ist der Moment für das Stoßgebet: Herr, lass es nicht regnen!
Und es regnete nicht. Alles war großartig organisiert. Die Firma Ants-Trans , also Ameisen-Transporteur, ist wirklich zu empfehlen. Das Unternehmen wirbt mit kleinen Ameisen, die ja bekanntlich viel schleppen, sowie mit dem Slogan „Ihr seriöser Umzugspartner“ - man scheint die Mitbewerber gut zu kennen. Ants-Trans hatte vorab bereits Kartons und Luftpolsterfolie, also jede Menge Hülle für Fülle geliefert. Der Vorteil des Umziehens: Es sammeln sich nicht so viele Sachen an. Der Spruch „Dreimal umgezogen ist einmal abgebrannt“ ist wahr. Was nicht eingepackt wird, wird auf den Mistplatz gefahren. Oh, wie ich als Deitscha euch Österreicher liebe: Wie herrlich klingt doch das Wort „Mistplatz“ für jemanden aus dem Land der „Wertstoffhöfe“.
„Die Kartons bitte mit Büchern nicht ganz voll machen“, sagte die Oberameise bei der Anlieferung. Viele Kartons hatten schon andere Umzüge/Übersiedlungen hinter sich. Ihre Beschriftungen waren skurril bis kryptisch: „Melanie oben“ zum Beispiel. Wer ist Melanie? Gibt es auch „Melanie unten“? Ebenso gab das Kürzel „Kits“ zu denken. War da jemand mal nach Kitzbühel gezogen, oder sollte mittels rudimentärer Englischkenntnisse gezeigt werden, dass man das Wort „Kinder“ auf gar keinen Fall mehr gebraucht, denn man ist ja hip und modern.
Wie bereits erwähnt, waren die Profi-Ameisen großartig: stark, schweigsam, eben seriös. Also keine Freigänger aus dem Häfn in Bodybuilderhosen, keine zwangsrekrutierten Familienmitglieder und auch keine, sich selbst überschätzenden Studenten, für deren Bandscheibenvorfälle man ein Leben lang verantwortlich gemacht wird. Die Möbelträger und Kistenschlepper tranken nichts anderes als Wasser, es ging nichts zu Bruch und man konnte in Ruhe dabei zusehen, wie sich mit jedem Karton in der neuen Wohnung ihre T-Shirts schweißnass färbten. Man lernt schnell zwei Dinge beim Übersiedeln: Erstens: Umzugstage sind genderdebattenfreie Zeit – Männer schleppen, bohren, wuchten; Frauen packen ein und packen aus. Zweitens: Ein zerlegtes Ikea-Regal ist erbärmlich und macht jedem Menschen klar: Es gibt auch Wegwerfmöbel.
Der Charme des Altbaus zeigt sich in der Beschaffenheit der Wände.
Jeder Versuch einen Nagel einzuschlagen, wird zu einer Überraschung: Es kann einem ein halber Kubikmeter Bauschutt entgegenprasseln oder man merkt, hier muss gedübelt werden. Mit der Bohrmaschine kann man auch Wasserleitungen oder Elektrokabel treffen. Kann man, muss man aber nicht. Und wie oft man dann noch in den Baumarkt fährt! Wie man ganze Schachteln voller Haken kauft, obwohl man nur einen einzigen braucht. Wie man jeden Abend neue Kraft schöpft, wenn man einen Altwiener Suppentopf leergelöffelt hat und wie jeder leere Karton zum Sieg einer neuen Etablierung wird. Zur Erlangung eines neuen Ich-Paradieses.
Ludwig van Beethoven (übrigens ein Deitscha) ist in den 35 Jahren, die er in Wien verbrachte, über 60 Mal umgezogen.
Circa alle sechs Monate wechselte der Mann die Wohnung. Das kann keine Freude gewesen sein! Machen Sie es ihm nicht nach! Der Mann sprengt alles und jede Statistik sowieso. Diese besagt: Im Schnitt ziehen Österreicherinnen und Österreicher in ihrem Leben sechsmal um. Und jeder zehnte Wiener zieht einmal im Jahr in seiner schönen Stadt um. Das sind 180.000 Übersiedlungen in 12 Monaten. Das sind allein in Wien jeden Tag 500 Menschen, die Kisten ein- und auspacken, die Möbel schleppen, die Regale aufbauen und die vom A1-Techniker versetzt werden. Und warum tun sie das? Ganz einfach: Weil sich das Leben ändert, oder vielmehr die Lebensumstände.
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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