QUIET WORDS
Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché
Der Blick in die Zukunft...
Warum behauptet immer jemand, er wisse ganz genau, was morgen los ist?
Die Jahreswende naht. Da denkt man etwas mehr über die Zukunft nach. Manche machen das professionell. Sie nennen sich Trendforscher. Und Trendforscher sind immer im Trend. Die Ware, mit der sie Geld verdienen geht ihnen nie aus: Zukunft! Was morgen ist, das wollte der Mensch schließlich zu allen Zeiten wissen. Prophezeihungen, Voraussagungen, Prognosen, Wahrsagereien, Orakel... wer wurde nicht alles bemüht: Pythia, Kassandra, Teiresias, Nostradamus bis zu Herman Kahn und Mathias Horx... Zukunftsforscher, Trendforscher allesamt; sorry: Futurologen! Das klingt natürlich besser. Viel besser, weil wissenschaftlicher. Auch wenn die Kaffeesatzleserei dieser Futurologen nichts anderes bleibt als Kaffeesatzleserei. Je schlechter die Zeiten, desto mehr will der Mensch wissen, was von kurzen politischen Lichtgestalten bis hin zu prognostizierten Megatrends morgen zu halten ist.
Natürlich wollen diese Houdinis sich nicht selbst in ihren Prophezeihungen verstricken. Deshalb hauen sie ihren gläubigen Zuhörern und Auftraggebern immer möglichst verschwurbelte Metaphern und wüstes Wortgeklingel um die Ohren und bieten so zu jeder Prognose eine ganze Palette von Interpretationsmöglichkeiten. Berühmt hierfür das Orakel von Delphi „Wenn du den Halys (Fluss in der Türkei) überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Klar, wenn man so was als selbstbewusster Feldherr hört, sagt man sich: mach ich! Dass man dabei vielleicht das eigene Reich zerstört, darauf kommt man ja nicht. Gleicher delphischer Ratschlag, anderer Fluss: Wenn du die Weichsel überschreitest... hätte das 1941 den deutschen Russlandfeldzug verhindert? Eben!
Ein Orakel muss immer verschieden interpretierbar sein. Außerdem muss es jenen Schuss Poesie haben, der es reizvoll und geheimnisvoll macht: „Die amerikanischen Zwillinge werden fallen, nachdem sie von stählernen Vögeln angegriffen wurden“. Ja, wer wäre denn darauf gekommen, dass hier das World Trade Center am 11. September 2001 gemeint sein könnte? Jenen Spruch soll übrigens eine Dame namens Baba Wanga bereits 1989 losgelassen haben. Ach, hätte der CIA nur auf Baba Wanga gehört. Ihr Kolumnist kannte die Dame übrigens auch nicht. Sie wurde 1911 als Ewangelia Pandewa Guschterowa in Mazedonien geboren, als Heilige verehrt und starb 1996 in Bulgarien.
„Über die Zukunft zu reden, ist der beste Vorwand, sich vor der Gegenwart zu drücken“, bemerkte Mark Twain. Stimmt! Wer sich die Gegenwart nicht ebenso schonungslos wie gnadenlos ehrlich von einem brillanten Geist wie Byung-Chul Han beschreiben lässt, der drückt sich am besten vor dieser Gegenwart, indem er Matthias Horx liest.
Ihr Kolumnist lernte Horx übrigens vor 40 Jahren bei MännerVogue kennen . Zweifellos der Kaderschmiede aller späteren Schwafeler und Schwätzer. (#metoo?) Mit Journalismus, der sich der Gegenwart verdingt, wollte Horx bald nichts mehr zu tun haben. Er wurde Zukunftsforscher: 1993 eröffnete der Mann ein „Trendbüro“ und 1998 das „Zukunftsinstitut“, erst in Frankfurt, dann (Horx weiß, wo’s schön ist) in Wien. Von nun an erschnüffelte er Megatrends und die Welt von morgen. Ehemalige Zeitungskollegen gingen noch 1993 höchst unsanft mit dem cleveren Propheten um, nannten ihn „genialen Seehund auf dem hohlen Heringsfaß des Zeitgeists“ (Die Zeit), oder attestierten ihm eine „durch und durch korrupte Gesinnung“ (FAZ). Diese bösen Lästermäuler sind aber längst verstummt. Horx’ „Zukunftsinstitut“ verkauft den Blick in die Glaskugel an die größten Konzerne und einflussreichsten Lobbyisten. Sie glauben an den Zukunftsreport, den der Seher alljährlich herausgibt. Für die „lieben Zukunftsfreundinnen und -freunde“ hält der „Trendreport“ für 2022 tolle Themen bereit: „Die Uhr des langen Jetzt“, oder „Kybernetisches Regieren“, oder „Der Traum vom Metaversum“, oder „Die Klima-Regnose“... Puh: Wortgeklingel eben, aber das wünscht sich der Kunde eines jeden Propheten.
Zwar lag Matthias Horx auch schon mal ziemlich daneben mit seinem Blick in die Zukunft: Im Wiener „Standard“ verkündete er 2001 „Das Internet wird kein Massenmedium“ und auch 2010 war sich der „Trend- und Zukunftsforscher“sicher: „Von Facebook wird in fünf bis sechs Jahren kein Mensch mehr reden.“ Shit happens, der Rubel rollt und „nobody is perfect.“
Übrigens bestätigt die familiäre Trendschmiede Horx des frechen Karl Kraus’ Bonmot über die Doppeldeutigkeit des Wortes „Familienbande“ : Gattin Strathern-Horx tingelt gegenwärtig mit dem schönen Thema „Kulturbauten der Zukunft“ durch die maroden Kulturbauten der Gegenwart. Der 27jährige Sohn Tristan ist, klar, auch schon Futurologe. „Unsere Fucking Zukunft“ heißt des Buberls erstes Werk. Auf der Tristan-Horx-Website sieht uns ein junger Mann ernst und traurig an. So muß der Philosoph Emile Cioran geschaut haben, als er den Satz schrieb: „Meine Vision der Zukunft ist so genau, dass ich, falls ich Kinder hätte, sie sogleich erwürgen würde.“
Also, was tun mit dem Morgen, mit der Zukunft, mit dem neuen, vor uns liegenden Jahr? Mein Tipp: am besten sich überraschen lassen. Und es mit Albert Einstein halten: „Ich denke nie an die Zukunft. Die kommt noch früh genug.“ Zu solch einem bescheidenen, sich fügenden Umgang mit der Zukunft sind Futurologen und Trendforscher natürlich nicht fähig; aber sie müssen auch leben und machen nur ihren Job. Ihr Kolumnist wünscht Ihnen schon heute: ein gutes, neues Jahr!
#pascalmorche
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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