QUIET WORDS
Betrachtungen des ultimativ Weiblichen
Hyaluron
Wie konnte der Mensch ohne dieses Wort leben?
Heute geht es hier um Sprache. Aber nur ein wenig. Also diese Kolumne wird nicht sehr lang sein, denn Ihr Kolumnist hatte gestern seine zweite Impfung. Der rechte Arm schmerzt ihn heute gar sehr, fühlt sich pelzig und gelähmt an. Ihr Kolumnist will jetzt kein Mitleid heischen. Dennoch: es gibt 29 (!) Klavierwerke für die linke Hand, zumeist weil der Pianist die rechte auf tragische Weise verloren hatte; aber es gibt nicht eine einzige Kolumne für die linke Hand. Also, liebe Leserin, dieser Text wird nicht ausufern. Dennoch widmet sich sein Autor in ihm einem ganz besonderen Phänomen. Einem Phänomen, das ihn seit einigen Jahren zutiefst fasziniert, bewegt und erstaunt: Es ist die Dauerpräsenz des Wortes „Hyaluron“.
Es ist wirklich nicht mehr möglich, dass der hautpflegebedürftige Mensch diesem Wort entkommt, oder irgendwie entkommen könnte. Keine Beauty-Werbung ohne einen Hinweis auf Hyaluron! Das Wort hat alle Schichten der Gesellschaft erreicht. Alle! Babys sollen es inzwischen lallen, wenn sie gewickelt werden und lange bevor sie Mama oder Papa sagen können. Und wer seiner Großmutter zum 94. Geburtstag eine Körpermilch schenkt, erntet von der Beschenkten ein mattes, aber dankbares, ein beeindrucktes „Oh, Hyaluron“. Dieses Wort riecht so herrlich nach Labor und weißem Kittel, es strahlt die ganze Ernsthaftigkeit dermatologischer Forschung aus. Hyaluron ist einfach toll. Nichts geht mehr ohne! Natürlich gab es das Zeug schon immer, deshalb sei kurz erklärt.
Hyaluronsäure ist ein Hauptbestandteil des zwischen den Hautzellen liegenden Bindegewebes. Es speichert unendlich viel Feuchtigkeit, dadurch füllt und stützt es. So sorgt Hyaluron für das, was alle von der Wiege bis zur Bahre wollen: Straffe Haut. Hyaluron war also schon immer da, aber wir wussten es nicht. Niemand (außer Dermatologen) brachte dieses Wort vor zehn oder zwanzig Jahren über die Lippen. Wir lebten ein Leben, ohne zu wissen, dass es Hyaluron gibt. Es muß ein sinnloses, ein armes Leben gewesen sein, denn erst jetzt, seit einigen Jahren gehört Hyaluron zum Grund- und Aufbauwortschatz eines jeden, wirklich jeden, der seine Haut nicht mit Lebertran oder Dieselöl verwöhnt.
Klar, Sprache ist lebendig. Sie wird sogar das Gendern überleben; zwar schwer verletzt, aber sie wird es überleben. Die Phrasen folgen den Moden. „Oh, genial!“ wird ausgerufen, wenn einem heute jemand im Kaffeehaus den Cappuccino ans Tischchen bringt. Genialität auf unterstem Level. Früher war der Mensch „aktiv“, das genügte aber irgendwann nicht mehr, weshalb er inzwischen „proaktiv“ ist. (Wäre „contraaktiv“ mit passiv zu übersetzen?).
Phrasen! Phrasen! Allgemeinplätze des allgemeinen Schnatterns, Schwätzens und Quasselns. Alltagsqualen des heutigen Wortschlussverkaufs. Alltagsqualen, von kleinen dämonischen Monstern im 9. Kreis der Hölle ausgedacht. Von Monstern, die PR-, Werbe- und Marketingabteilungen beraten und die irgendwann beschlossen haben: Beauty ohne Hyaluron ist wie ein Krieg ohne Wunderwaffe. Irgendwann, übrigens meist wenn der Krieg verloren ist, taucht sie auf, die Wunderwaffe.
Ich sehe sie alle sitzen in den Konferenzräumen der Beautyindustrie, ich höre sie bei jeder Zoom-Konferenz, ich lese E-mails und Gesprächsprotokolle. Überall gibt’s nur eines, jeder „Kommunikationsberater“ empfiehlt es: Wir müssen Hyaluron erwähnen! Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche oder das allahu akbar in der Moschee. So versucht auch der unbedarfteste Werbetexter seinen Kunden glücklich zu machen, indem er „Hyaluron“ schreibt. Oder wenn er dichtet „Im Mittelpunkt steht der Mensch“. Ein Satz, der übrigens auch für Scharfschützen gilt.
#pascalmorche
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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