QUIET WORDS
Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché
Bitte lächeln
Wie der Mensch zum Smiley seiner selbst wird
Perspektivewechsel: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Baby. Das hätte zwar den Nachteil, dass Sie diese Kolumne nicht lesen würden. Zweifellos aber überwiegen die Vorteile ein Baby zu sein. Sie können schlafen, soviel Sie wollen und wenn Sie schreien, gibt’s sofort Nahrung und Ihr Kinderwagen ist sowieso das Paradies. Und nun, liebe Leserin, etwas Fantasie.
Sie liegen also auf dem Rücken im Kinderwagen und werden geschoben. Bäume ziehen über ihnen vorbei, Hausfassaden, Straßenlaternen, blauer Himmel wechselt mit grauem Himmel... ein herrlicher Zustand so im Kinderwagen! Dann sehen Sie zur Mama hoch, doch Mama schaut nicht zu Ihnen hinunter; nein, Mama schaut auf ihr Smartphone. Manchmal lächelt die Mama sogar das Handy an – obwohl das nie zurücklächelt. Wie Sie mit der Enttäuschung, von der Mutter nicht angelächelt zu werden umgehen, das bleibt Ihre Sache. Und dafür haben Sie ja auch noch ein Leben lang Zeit.
Wenn Sie dann erwachsen sind, merken Sie bald, dass Lächeln viel bewirkt. Wer jemanden anlächelt, der bekommt meist ein freundliches Lächeln zurück. Gut so. Nur hat man den Menschen inzwischen geradezu eingebläut, dass sie stets positiv, vital und aktiv durchs Leben gehen müssen – und zwar mit einem Lächeln! Dieses Lächeln, diese permanente gute Laune scheint darum manchen Mitmenschen mitunter ins Gesicht getackert zu sein.
Damit aber der Mensch auch wirklich zum Smiley seiner selbst wird, braucht er perfekte Zähne. Die müssen aufgereiht sein wie die Perlen eines Bulgari-Colliers und was im Mund nicht passt, wird passend gemacht. Längst ist für Kinder der erste Besuch beim Kieferorthopäden ein Initiationsritus. Das Anpassen einer Zahnspange bedeutet, die nächst höhere pubertäre Entwicklungsstufe in Richtung aktiver, positiver, vitaler Erfolgsmensch erklommen zu haben. Auf dem Schulhof hat die Zahnspange längst einen Imagewandel erlebt: Sie stigmatisiert nicht mehr, sie ist Statussymbol. Silberdrähte im Mund, die mehr als eine Prada-Handtasche kosten, sind logischerweise Objekte der Begierde. Der verdrahtete Teenager trägt keinen „Gebiss-Regulierungsapparat“, sondern Brackets und Drähte in „coolem“ Design. Und die werden, (Rappern, Ravern und Models sei mal wieder gedankt) als „Zahnschmuck“ empfunden.
Der Mensch muss sich darstellen und zwar aktiv, positiv, vital! Posen muss er können und das heißt als basic: Lächeln! Posen zum Posten! Eine Zeitlang gehörte zum Posen, dass man seine Lippen zur Entenschnute formte. Aber Duckface war bald out und posende Menschen zogen es seltsamerweise immer häufiger vor die Zunge rauszustrecken, wenn sie fotografiert wurden. Doch als Posing-basic blieb: Lächeln! Das ist ja auch die eleganteste Art, seinen Gegnern die Zähne zu zeigen.
Zwar behauptet der Kitsch stets, dass ein Lächeln ins Gesicht „gezaubert“ wird. Tatsache aber ist, dass man zur Darstellung seines freundlichen, glücklich und zufrieden gestimmten Gesichts, dass man zum perfekten Lächeln gerade Zähne braucht. Wer es nun mit Brackets, Spangen, Schienen und Drähten in jungen Jahren versemmelte, der trägt heute dazu bei, dass die Nachfrage nach Zahnkorrekturen im Erwachsenenalter stetig wächst. Vor allem: Zähne zu begradigen wird erschwinglicher, die Methoden einfacher, der Wettbewerb nimmt zu.
1997 erfand das US Unternehmen Align Technology durchsichtige Zahnschienen und nannte sie Aligner. Plastik statt Metall sollte (und konnte!) leichte Fehlstellungen korrigieren. 2016 liefen dummerweise die ersten Patente aus. Und sofort drängten neue Anbieter auf den Markt und in die Mundhöhlen. So auch Dr Smile! Auf Instagram sind Sie diesem Facharzt für perfektes Lächeln wahrscheinlich schon längst begegnet. Großer Marketingaufwand, Influencer aller Klassen und Reichweiten, Top PR-Agentur... Dr Smile lässt nichts unversucht um zu vermitteln, dass mit perfekten Zähnen unser Lächeln so strahlend sei wie von Airline-Stewardessen und Home-Shopping-Moderatoren. „Aktiv das eigene Leben gestalten und im Flow bleiben, schafft Zufriedenheit“, heißt’s bei Dr Smile. Im Internet buchen Sie am besten einen Termin bei Ihrem Dr Smile-Zahnarzt in der Nähe. Er rät Ihnen dann zu passenden Aligner-Schienen und die kommen per Post. Vielleicht lächeln Sie sogar über den Preis. Am Black Friday kann man auch noch 500 Euro sparen: Weiße Zähne am Schwarzen Freitag. Keep smiling! Das Leben ist schön mit Plastikschienen im Mund; es ist zum Lächeln und zum Lachen. Hauptsache, Sie bleiben aktiv, positiv, vital und natürlich „im flow“.
#pascalmorche
ÜBER DEN AUTOR
QUIET WORDS
ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ
Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser
die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier
exklusiv niederschreibt.
Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims.
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