QUIET WORDS

Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché

FOMO

Die Halbwertszeit schöner Momente – und die Angst, sie zu verpassen

Fomo - Von der Angst, schöne Momente zu verpassen© Pixabay

Es gibt in der deutschen Sprache recht seltsame Worte. Manche sind paradox wie „Doppelhaushälfte“ oder „Frauenmannschaft“; andere sind durch ihre schiere Länge bereits lächerlich: "Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft“.

Ein Wort, das sich mir nie erschlossen hat, ist „Halbwertszeit“. (Ja, da ist ein s in der Mitte, nennt sich Fugenlaut). Nur was heißt „Halbwertszeit“? Ist es Zeit, die nur noch die Hälfte wert ist? Oder reduziert sich ein Wert um 50 Prozent in einer gewissen Zeit? Man muss nicht alles verstehen, schon gar nicht, wie sich „Halbwertszeit“ berechnet. Mathematische Formeln sind meine Sache nicht. Nur soviel: „Halbwertszeit erklärt, nach welchem Zeitraum eine mit der Zeit exponentiell abnehmende Größe die Hälfte des ursprünglichen Wertes erreicht hat.“ Uff!

Ich hole hier sehr aus, bis ich zu FOMO komme. Sorry! Sicher brennen Sie danach zu erfahren, was FOMO ist. Aber so schnell lüfte ich das Geheimnis nicht. Versuchen wir’s mit anderen Worten aus dem Themenkreis der Halbwertszeit: „Verfallsdatum“, „Ablaufdatum“, „Haltbarkeitsfrist“. Sie kennen das: Da steht auf einer Dose Tomaten: „Haltbar bis 24.08. 2027, 14:48 Uhr“. Ziemlich irrsinnig, oder? Wehe, Sie öffnen die Dose am 24. August 2027 um 14:50 Uhr. Wenn Ihnen dann speiübel ist, können Sie den Tomateneindoser jedenfalls nicht mehr haftbar machen. Vielleicht leben Sie am 24. August 2027 aber auch längst nicht mehr. Dann hätte das Lebensmittel das Leben überlebt.

Ein Ablaufdatum, das man normalerweise nicht kennt, ist jenes des eigenen Lebens. Gut so! Alles, was darüber hinausgeht, muss geregelt werden und hat ein genaues Verfallsdatum. So bekommt Jahrmillionen altes Himalayasalz sofort ein Ablaufdatum, kaum dass es in Deutschland im Supermarktregal steht – und wehe sie streuen es danach noch über ihr Frühstücksei! Dabei werden manche Produkte, beispielsweise Époisses-Käse, erst richtig gut „nach“ ihrem Ablaufdatum. Gourmets wissen das und freuen sich, wenn der Époisses dann oftmals nur noch die Hälfte kostet. Aber die meisten Menschen sind keine Gourmets und haben Wahnsinnsangst vor einer schweren Lebensmittelvergiftung,  wenn sie ein Produkt nach seinem Ablaufdatum essen. Nun aber zu FOMO.

Auch schöne Momente, schöne Bilder unterliegen einer Halbwertszeit. Poesievoll sagt man, sie verblassen. Die Erinnerung an einen schönen Moment, an ein Bild lässt nach, aber schon kommt das nächste Bild. So funktionieren nämlich die soziale Medien, so funktioniert Instagram. Bekanntlich bombardieren wir unsere Mitmenschen permanent mit Bildern schöner Momente, toller Events, großartiger Ereignisse. Die Halbwertszeit dieser Fotos wird immer kürzer, sie verblassen immer schneller. Aber Munition wird ja gleich wieder nachgelegt: die nächsten schönen Momente, tollen Events und großartigen Ereignisse... Wir zeigen nur zu gerne, was wir haben und was wir Schönes erleben. So posten wir uns durch soziale Medien, stacheln den anderen auf: hier noch ein Foto bei Instagram und dort noch eines auf Facebook.

Wer dann in seinem Feed jene Bilder sieht, in dem keimt das Gefühl „ich verpasse etwas!“. Und das Gefühl wächst immer wieder nach. Genau wie die immer wieder neuen Bilder, die dem Adressaten sagen, dass es dem anderen viel besser geht, dass der andere die richtig tollen Events besucht. Es ist menschlich und war immer so. Unser Wunsch nach Zufriedenheit und Glück funktioniert (leider!) meist komparativ. Wie geht’s mir im Verhältnis zu den Anderen? Und irgendwie, so scheint’s, geht es den Anderen immer besser. Auf der anderen Seite des Zauns ist das Gras bekanntlich ja auch immer grüner - und auf der anderen Seite des Schreibtisches wird das Geld auch immer leichter verdient.

Permanent wird man durch Bilder in den sozialen Medien gefüttert. Permanent hat man dieses blöde Gefühl, etwas zu verpassen. Verständlich: Da schleppt man sich durch Wiens Shopping Cities und bekommt Fotos von Mitmenschen, die gerade am Strand in der Karibik liegen. Da isst man lustlos eine Pizza auf dem heimischen Sofa, während das Smartphone Fotos aus der Oyster Bar im Grand Central von New York liefert. Da zappt man einsam und gelangweilt durch’s TV-Programm und auf Instagram trudeln Fotos von wilden Partys der anderen ein. Wer soviel fremdes Glück ansehen muss, der kulminiert in dem tiefen Seufzer: Den anderen geht’s besser, ich verpasse das Leben. Vor allem: Ich verpasse die schönen Seiten des Lebens (denn nur die werden ja gepostet).

Dieses Gefühl etwas zu verpassen, es macht traurig, es macht aggressiv oder depressiv und es macht im schlimmsten Fall richtig krank. Was krank macht, muss auch sofort medizinisch etikettiert werden. Und so fand man nun den medizinischen Begriff: FOMO.                                                          

FOMO heißt „fear of missing out“ – „Die Angst etwas zu verpassen“. Als konkrete Krankheit ist FOMO zwar (noch) nicht anerkannt, aber immerhin versteht man FOMO als eine Variante psychischen Leidens aus dem großen und weiten Spektrum der Depression. FOMO hat nur oberflächlich mit Neid zu tun. Neid ist, je nach Charakter, ein stärkeres oder schwächeres Dauerrauschen in der menschlichen Seele. FOMO aber wird immer wieder neu entfacht. Die Bilder schöner Momente, die FOMO auslösen, unterliegen immer einer Halbwertszeit. Und die wird immer kürzer. Denn die schönen Momente werden immer mehr und spektakuläre Events gibt’s immer öfter. Aber leider nur bei den anderen.

Fazit: Was hilft also gegen FOMO? Zufrieden sein, mit sich und dem eigenen Leben. Ist, das muss auch Ihr Kolumnist zugeben, nicht ganz einfach.

#pascalmorche

ÜBER DEN AUTOR

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims. 
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