Natürliche Pflege für ganze Kerle?
Warum greift Mann gerne zu Kosmetik
Dr. Ragnar K. Willer, Trendforscher und Konsumsoziologe, über das sich wandelnde Männerbild in der Gesellschaft und warum das vermeintlich starke Geschlecht gerne zu Kosmetika greift.
Männerkosmetik verzeichnet in den letzten Jahren große Zuwachsraten. Wie erklärt sich dieser Erfolg?
Hinter dem aktuellen Erfolg kosmetischer Pflegeprodukte für Männer steht eine komplexere Entwicklung, die eng mit dem sich verändernden Selbstbild des Mannes in der Gesellschaft verbunden ist. Der Mann hat verstanden, dass ein ungepflegtes Äußeres in der fortschreitenden Dienstleistungsgesellschaft, die die Industriegesellschaft ablöst, kontraproduktiv ist. Zudem leben wir in einem sehr visuell geprägten digitalen Zeitalter, wo jeder aufgrund von Selfies, Listen und Profilen HD-ready sein möchte und die eigene Attraktivität zur Selbstvergewisserung in diesen überaus komplexen, unsicheren Zeiten nutzt.
Auf der anderen Seite ist der dokumentierte Trend hin zu kosmetischer Pflege auch Ausdruck eines größeren Gesundheits- und Schönheitsbewusstseins von Männern, welche die Idee, etwas für sich und den eigenen Körper zu tun, vermehrt in den Mittelpunkt stellen. Angetrieben wird diese Entwicklung nochmals durch den gesellschaftlich wahrgenommenen Zeitnotstand, der dazu führt, dass sich Konsumenten im Alltag vermehrt kurzfristig belohnen möchten. Hier stellen kosmetische Pflegeprodukte, aber auch der Besuch beim Barbier oder die Schönheitsbehandlung Angebote dar, die vermehrt von Männern nachgefragt werden.
Wesentlich für die Entwicklung des Marktes sind hier auch Vorbilder. War vor 15 Jahren David Beckham einer der wenigen Sportstars, die sichtbar auf ihr Äußeres achteten - und dafür sogar belächeltet wurden - , ist die kultivierte Erscheinung des Mannes heute eine Selbstverständlichkeit, deren Manifestation im Alltag vor allem im Internet, aber auch in einer ständig wachsenden Zahl von Veröffentlichungen dokumentiert wird.
Haben Männer diesbezüglich Nachholbedarf?
Nachholbedarf sehe ich tatsächlich eher aufseiten der Hersteller, der Industrie und des Dienstleistungsbereiches, den Mann und sein Bedürfnis nach einem gepflegten Äußeren, nach Erholung, Balance und Wellbeing ernst zu nehmen und ihm in Form von Produkten und Dienstleistungen stimmige Angebote zu machen. Die Pluralisierung von Männlichkeit, die sich stärker denn je abzeichnet, wird noch nicht in Produkten und Dienstleistungen für den Mann widergespiegelt. Hier hinkt die Industrie dem Markt hinterher.
Nehmen sich heute Männer anders wahr als vor, sagen wir, 50 Jahren?
Das gesellschaftliche Bild des Mannes, die damit verknüpften Rollenerwartungen sowie männliche Selbstbilder haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Männlichkeit hat sich pluralisiert und modularisiert, d.h. Männlichkeit wird in den verschiedenen Lebensbereichen wie Arbeit, Freizeit, Partnerschaft und Männerfreundschaften unterschiedlich integriert.
Mit der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre setzte eine kritische Auseinandersetzung mit der Generation der Väter und den damit verbundenen heroischen, soldatischen und schließlich traditionellen Männlichkeitsentwürfen ein. Die traditionelle Männerrolle bestand vor allem aus Erfolg, Leistung, Härte, Distanz, Konkurrenz und Macht. Männer werden heute weniger wettbewerbsbetont und leistungsorientiert sozialisiert und die Gesellschaft hinterfragt die Bilder von Männlichkeit, die unsere Vorfahren vorgelebt haben.
Männer verhalten sich heute also deutlich gefühlvoller, partnerschaftlicher und sind zu besseren Zuhörern geworden. Neue Rollenmodelle wie der Hausmann oder der teilzeitarbeitende Vater werden heute akzeptiert und sind weniger klischeebehaftet. Gleichzeitig tendiert die Entwicklung der Wirtschaft in Richtung des „weiblichen“ Dienstleistungssegmentes und zur sukzessiven Schrumpfung der „männlichen“ Industriearbeit. Die Arbeitswelt bemüht sich in diesen Zeiten insbesondere um den kooperativen, empathischen und flexiblen Mann.
Der Mann selbst sucht in dieser für ihn zum Teil noch verwirrenden Gemengelage natürlich simultan nach Manifestationen einer neuen Männlichkeit, die Marken - auch mit ihren Pflegeprodukten - bieten
können.
Was hat das mit der Stellung des Mannes in der modernen Gesellschaft zu tun?
Eine Folge gesellschaftlichen Wandels ist es, dass der Mann heute sehr verschiedene Rollen einnehmen muss. In der Berufswelt wird zumeist weiterhin eine starke Leistungsorientierung als männlich empfunden, gleichzeitig verlangen alle Tätigkeiten heute mehr Kommunikation und Kooperation. Zu Hause in der Familie wird der verständnisvolle Vater erwartet.
Gleichzeitig sind Männer seit Beginn der Wirtschaftskrise in vielen Ländern Europas stärker von Arbeitsplatzverlusten bedroht als Frauen, was Männer, die sich traditionell besonders über ihre berufliche Tätigkeit identifizierten, in hohem Maße betrifft. Aktuell ist Männlichkeit mehr denn je eine Gratwanderung. Eine Vielzahl von Studien dokumentiert die Entwertung von Männlichkeit, in deren Folge Männer sehr viel stärker und individueller definieren, was für sie männlich ist. Und hierzu gehört in unseren Zeiten eben auch ein attraktives Aussehen.
Was haben Männer in Sachen Kosmetik noch zu erwarten?
Neben den traditionell von Männern genutzten Produkten wie Haarpflege und -styling wird die Industrie zielgerichteter die Bedürfnisse, Wünsche und Ansprüche von Männern in ihre Innovationen integrieren. Da der Trend zum Bart anhält, wird es hier ebenfalls ein breiteres Angebot an speziellen Pflegeserien geben. Ferner ist Anti-Aging auch für den Mann ein Thema. Die Gesellschaft wird zwar in Zukunft selbstbewusster und souveräner mit dem Thema Alterung umgehen, was aber nicht heißt, dass wir den Alterungsprozess nicht zumindest etwas hinauszögern möchten