QUIET WORDS

Alltags-Betrachtungen von Pascal Morché

Goscherlpflaster!

Es gilt von einem neuen Trend zu berichten. Er geistert durch die asozialen Medien und außerdem folgen ihm auch Promis: der Fußballer Erling Haaland und die Schauspielerin & Unternehmerin Gwyneth Paltrow kleben sich nämlich vor dem Zubettgehen den Mund mit Klebeband zu; sie machen Mouth Taping!

Anhänger des Mouth Tapings schwören darauf, dass sie sich fitter und ausgeruhter fühlen© Pexels

Also, sich den Mund beim Schlafen zuzupflastern, ist keine Sado-Maso-Spielart, wie man vermuten könnte (dazu später). Es ist auch nicht Ausdruck eines bleibenden psychischen Coronaschadens bei all jenen, die den FFP2-Masken nachtrauern. Mouth Taping soll den Schlaf verbessern und das geht so: Die mittels Klebestreifen über dem Mund erzwungene Nasenatmung sorgt dafür, dass Luft beim Einatmen erwärmt und befeuchtet wird. Die Nasenschleimhaut, so die Anhänger der reinen Mouth-Taping-Lehre, wirkt nämlich als körperaktive Immunabwehr und bekämpft Krankheitserreger bevor sie in den Körper gelangen. Bei der Mundatmung, wie sie der Mensch als Homo erectus die letzten zwei Millionen Jahr beim Schlafen (auch) betreibt, dringt nämlich die Atemluft ungewärmt und ungefiltert ein. Der Rachen trocknet aus, kühle Atemluft greift die Bronchien an, Krankheitserreger finden leicht in den Körper. Vor allem aber: auch das Schnarchen soll mittels Mundpflaster verringert werden. Tolle Sache also so ein zugeklebtes Goscherl.

Anhänger des Mouth Tapings schwören darauf, dass sie sich fitter und ausgeruhter fühlen. Ja, Frau Paltrow wurde erst richtig fit nach „Shakespeare in Love“, das war 1998. Wahrscheinlich klebt sie sich schon seit Jahrzehnten nächtens ihre schönen Lippen zu. Nun, mag sein, dass lästiges Schnarchen (ein wenig) reduziert wird, dennoch betrachten Schlafforscher und HNO-Mediziner den Mouth Taping-Trend ziemlich skeptisch. Sie halten nichts von Klebestreifen auf dem Mund. „Es gibt keinen Nachweis, dass Mouth Taping medizinisch irgendeinen Sinn macht“, sagt Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums der Charité in Berlin. Logisch eigentlich: Für Menschen mit Asthma, Atembeschwerden, Allergien, Schlafapnoe oder auch nur einer verstopften Nase ist Mouth Taping nichts. Ingo Fietze: „Die dürfen sich nicht den Mund zukleben. Das ist ja Körperverletzung, das muss man mal ganz klar sagen! Wir brauchen beide Atemwege.“ Auch beim Schlafen. Sich im Bett nämlich den Mund zuzukleben, kann Beklemmungsgefühle und sogar Panikattacken auslösen; bei sich – und dann auch bei dem, der neben ihm liegt.

Die amerikanische „Sleep Foundation“ testet regelmäßig Produkte, die einen besseren Schlaf versprechen. Auch hier wird vom Zukleben des Mundes dringend abgeraten, zumal es tatsächlich keine wissenschaftlich seriösen Studien gibt, die das gewaltsame Verschließen des Mundes als positiven Effekt belegen. „Sobald die Nase ganz oder teilweise verstopft ist, macht es keinen Sinn, sich den Mund zuzukleben. Das wäre nur schädlich, ja gefährlich“, meint die Sleep Foundation.

Nun, erstickt ist mit Klebestreifen auf den Lippen bisher noch niemand in der Nacht. Doch zweifellos gilt: Schlafen mit zugeklebtem Mund muss man mögen. Bevor wir zu empfehlenswerten Pflastern kommen (Tesa und Pattex haben hervorragend klebende Produkte) kurz noch die sexuelle Konnotation des neuen Blödsinns nächtlicher Atemregulierung: „Breath Control“ ist eine Sexualpraktik aus dem BDSM-Bereich. Die Atmung des passiven Partners wird entweder erschwert oder für kurze Zeiträume gänzlich unterbunden. Eine Spielart, die zu den gefährlichsten Praktiken des BDSM gehört. Der ultimative Orgasmus ist bei manchen schon wirklich „ultimativ“ also der letzte gewesen, wenn sie auf’s Atmen verzichtet haben, weil der Kopf zu lange im Billa-Sackerl steckte.

Man kann den Mund zum Essen und Trinken, zum Reden und zum Gähnen gebrauchen – und übrigens auch zum Küssen. Ihn jedoch nächtens im Schlaf zum Atmen zu benutzen, das lehnen passionierte Mouth Taper entschieden ab. Sie kaufen treu im Drogeriemarkt ihre Pflaster (100 Stück für 7 bis 10 Euro). Es gibt auch Klebestreifen neckisch mit Mond und Sternen bedruckt, soll ja schließlich für die Nacht sein. Gerne pflastern sich Mouth Taper ihre Tapes kreuzweise über den Mund. Und die es tun, sie werden ständig mehr: Der Hashtag #mouthtaping hat mehr als 51,7 Millionen Aufrufe bei TikTok! Jeden Morgen, den Gott will, teilen dort Influencer und Influencerinnen mit, wie ihre Nacht mit bandagiertem Goscherl war. Noch ist niemand darauf gekommen, den Mund zuzutackern, oder zuzunähen. Kann ja noch kommen.

Mouth Taping wird bisher „nur“ für die Nacht und zum Schlafen genutzt. Und genau das ist verdammt schade: Angesichts so manchen dummen, überflüssigen Geschwätzes wäre es ein wirklicher Fortschritt für die Menschheit, würden eben diese sich vor allem tagsüber den Mund zukleben. Klappe halten mit Gewalt! Die positiven Seiten des Mouth Tapings jenseits des Schlafens, sie sind noch längst nicht ausgeschöpft. Da ist im wahrsten Sinne des Wortes noch Luft nach oben für Luft durch die Nase.

#pascalmorche

ÜBER DEN AUTOR

QUIET WORDS ist die gar nicht so stille Betrachtung des ultimativ Weiblichen, eine politisch unkorrekte Kolumne, deren Verfasser die Frauen kennt, sie liebend gerne beobachtet und seine Gedanken hier exklusiv niederschreibt.

Der bekannte Journalist Pascal Morché gilt als pointierter Autor, seine Kolumnen und Kommentare in führenden Tageszeitungen und Magazinen wie FAZ, SPIEGEL, die ZEIT und FOCUS zu Themen der Gesellschaft, Mode, Kunst und Kultur sind legendär. Seine "Lesungen der besonderen Art" haben Kultstatus. Seine Bücher "365 Tage Fashion" gelten als Bibel für Fashion Victims. 
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